NS-Zwangsarbeit mitten im Kiez

Geschichte am historischen Ort

Schöneweide – das ist eine Stunde von Reinickendorf Richtung Südost. Nicht um die Ecke, jedoch ein lohnender Ort, wenn man etwas über das im Schulunterricht eigentlich nie behandelte Thema der zivilen Zwangsarbeit erfahren möchte. In Schöneweide liegt das Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit, untergebracht in dem einzigen erhaltenen Zwangsarbeiterlage aus der Zeit des Nationalsozialismus. Es liegt mitten im Kiez, umgeben von Mietshäusern aus dem Kaiserreich. Das war möglich, weil es sich in der allgemeinen Diktion schlicht um „Fremdarbeiter“, teilweise auch „Ostarbeiter“ handelte, Arbeitskräfte die „angeworben“ worden waren.

Das Dokumentationszentrum war die erste Adresse für eine Gruppe von Neunt- und Zehntklässlern, die eine Woche lang an einem deutsch-polnischen Begegnungsprojekt zum Thema teilnahmen. Es begann – wie sollte es bei einer internationalen Begegnung anders sein – mit einem Vormittag des Kennenlernens. Denn schließlich stellt solch ein Projekt alle Beteiligten vor besondere Herausforderungen: Es gilt, eine gemeinsame Sprache zu finden, es verlangt Offenheit für die Partner, Toleranz und Geduld, wenn die fachlichen Beiträge prinzipiell zwischen den Muttersprachen gemittelt werden. Denn es ist gerade ein Grundsatz in der internationalen Projektarbeit, dass alle TeilnehmerInnen ihre Muttersprache sprechen können, damit die Beteiligungsmöglichkeiten in der inhaltlichen Arbeit nicht durch Fremdsprachenkenntnisse auf unterschiedlichem Niveau behindert werden. Neben unserer Dolmetscherin Malwina, die uns eine Woche begleitete, haben unsere drei zweisprachigen TeilnehmerInnen Wiktoria, Igor und Max die Arbeit um einiges erleichtert.

Zum Einstieg in die thematische Arbeit verständigten sich die Schülerinnen und Schüler zunächst über den historischen Kontext und das Grundlagenwissen zum Zweiten Weltkrieg. Am zweiten Projekttag stand die Zwangsarbeit auf dem Programm. Die Führung durch die Dauerausstellung im Dokumentationszentrum gab einen Überblick über das Massenphänomen Zwangsarbeit während des Zweiten Weltkriegs. Männer, Frauen und Kinder wurden aus zahlreichen Ländern verschleppt und leisteten in einem Herrschaftssystem, das auf der rassistischen Ideologie des Nationalsozialismus beruhte, Zwangsarbeit in Industriebetrieben, aber vor allem in der Landwirtschaft. 1943/44 waren knapp die Hälfte aller Beschäftigten in der Landwirtschaft ausländische Arbeitskräfte oder Kriegsgefangene. Nach der rassistischen NS-Ideologie waren Zwangsarbeiter aus den westlichen Nachbarländern mehr wert als sogenannte Ostarbeiter beispielsweise aus der Ukraine. Danach bemaßen sich auch die Lebensumstände der Zwangsarbeiter, der Lohn und nicht zuletzt das Maß der Freiheit im Alltag, das ihnen zugestanden wurde. Zur Vermeidung von Konflikten wurden die Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter grundsätzlich nicht nur nach Geschlecht, sondern auch nach Nationen getrennt untergebracht.
Baracke 13 gehörte zur Besichtigung, die einen Eindruck davon vermittelt, in welchen Verhältnissen die ZwangsarbeiterInnen lebten. Irritierend ist allerdings die heutige Nutzung eines Teils der Baracken, die nicht auf dem Gelände des Dokumentationszentrums stehen; in ihnen findet sich heute eine physiotherapeutische Praxis, eine Kita oder auch eine Autowerkstatt.

Zur Zwangsarbeit gehörte, dass Unternehmen Arbeitskräfte anfordern konnte. Dies tat auch der Kleinunternehmer Otto Weidt, in dessen Werkstatt vor allem blinde und gehörlose Juden während des Krieges Bürsten und Besen herstellten. Otto Weidt rettete auf diese Weise zahlreichen Juden das Leben. Seine Werkstatt ist heute als Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt in der Rosenthaler Straße zu besichtigen. Auch dies war ein Programmpunkt, der im Sinne des Begegnungscharakters verknüpft wurde mit einer Stadtrundfahrt für die polnischen Gäste.

Dem historischen Teil folgte nun ein Workshop zu den Folgen der Zwangsarbeit, die bis in die Gegenwart politische Bedeutung haben: Was passierte mit den Zwangsarbeiter/innen nach Kriegsende? Bis Oktober 1945 kehrten zehn Millionen Menschen zurück in ihre Heimatländer – mit Hilfe der Alliierten oder auf eigene Faust. In ihren Heimatländern, wo sie häufig wieder in Lagern eine Zeit überbrücken mussten, machten sie nicht selten die Erfahrung von Diskriminierung, weil ihnen Kollaboration mit den Nazis unterstellt wurde. Viele hatten Schwierigkeiten, in ein normales Leben zurückzufinden und sich beruflich zu entwickeln. Andererseits bekamen sie aber auch lange Zeit keinerlei Entschädigung für die Arbeit, die sie unter Zwang in deutschen Unternehmen geleistet hatten. Dies änderte sich erst in den späten 1990er Jahren. Nachdem zunächst individuell symbolische Entschädigungszahlungen geleistet wurden, wurde 2000 auf Beschluss des Bundestages die Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ gegründet (EVZ), und ein Fonds für Entschädigungszahlungen im Umfang von 10 Mrd. DM eingerichtet, an dem sich 6.500 Unternehmen mit insgesamt 5 Mrd. DM beteiligten. Nach einem differenzierten Klassifizierungssystem erhielten ehemalige KZ- und Ghetto-Häftlinge den Maximalbetrag von ca. 7.700€, während in der Landwirtschaft Eingesetzte und Kinderhäftlinge maximal ca. 2.200€ beanspruchen konnten.

Die Geschichte der Zwangsarbeit führte die ProjektteilnehmerInnen schließlich zum Flughafen Tempelhof. Dort waren 1944 ca. 2.000 Zwangsarbeiter/innen bei der Weserflug, einem Unternehmen der Luftfahrtindustrie, eingesetzt. Auch die Lufthansa ersetzte mit Zwangsarbeitern die Männer, die als Soldaten an die Front geschickt wurden. Ohne ausländische Zwangsarbeiter/innen, so ist zu vermuten, wäre die deutsche Kriegswirtschaft schon 1942 zusammengebrochen.

Der Flughafen Tempelhof war auch ein Ort, an dem die Nationalsozialisten monumentale Architektur planten. Für Flugschauen wurde eine Tribüne für 80.000 Zuschauer geplant. Eine bessere Vorstellung von der Monumentalität des nie realisierten Vorhabens gewannen die Projektteilnehmer beim gemeinsamen Rundgang um das Tempelhofer Feld. Spuren des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers suchten sie dort allerdings fast vergeblich; lediglich ein paar Mauerreste sind erhalten.

Nach einer Woche historischer Erkundung mit einer Mischung aus Führungen, Workshops und sozialem Miteinander endete das Begegnungsprojekt am Samstag mit Feedback und einem gemeinsamen Picknick am Platz der Luftbrücke als einem weiteren geschichtsträchtigen Ort. Ohne Lernerfolgskontrolle und Leistungsdruck haben alle Projektteilnehmer ihren historischen Horizont beträchtlich erweitern können. (BK)