Blumenstrauß-Projekt 2012
Saskia Kurrek aus dem 4. Semester berichtet von der Begegnung mit Herrn Müller
Anlässlich des Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27.1. hatte ich mit meiner Freundin im Rahmen des Leistungskurses Geschichte die Möglichkeit, den Zeitzeugen Josef Müller zu treffen. Zwar gestaltete sich das Gespräch aufgrund der relativ lauten Umgebung in einem Café im Clou und wegen Herrn Müllers Erinnerungslücken, die er sehr bedauerte, etwas schwierig, aber trotzdem bewegte uns seine Geschichte sehr.
Der heute Achtzigjährige ist das Kind einer Roma-Familie, wuchs jedoch bei einer Pflegefamilie in Halle auf. Er berichtete uns, dass er die Anfänge des Nationalsozialismus durch Hänseleien seiner Schulkameraden unmittelbar mitbekam. Die Ursache, warum er plötzlich verspottet wurde, kannte er aber nicht, er war nur sehr traurig darüber.
Die hänselnden Kinder hatten sich Wörter wie „Zigeunerschwein“, mit denen sie ihn beschimpften, nicht selbst ausgedacht, sondern nur aufgeschnappt. Doch zum Glück gab es einen Lehrer, der sich für den Jungen einsetzte und dem er auch heute noch sehr dankbar ist. Denn es sollte nicht nur bei diesen verbalen Angriffen bleiben. Die meisten Kinder fingen nun an, ihn wegen seiner dunkleren Hautfarbe zu meiden, und er wurde immer einsamer. Auch durfte er nur noch in Begleitung nach draußen gehen, nachdem er einige Male verprügelt worden war und sogar einmal bewusstlos auf der Straße gefunden wurde. Der damals ungefähr zehnjährige Josef wurde immer verzweifelter und verstand nicht, was anders oder falsch an ihm war.
Eines Tages kamen ein Mann und eine Frau in seine Schule und sagten ihm, dass er krank sei, Schmerzen habe und deswegen ins Krankenhaus müsse. Der Zwölfjährige wehrte sich vehement, doch erfolglos. So wurde er weggebracht. Eine Flucht aus dem Krankenhaus war unmöglich, da die Einrichtung rund um die Uhr bewacht wurde, außer bei Fliegerangriffen, bei denen er allein im Zimmer gelassen wurde, während alle anderen im Keller waren.
Dann kam die angebliche Blinddarmoperation, die, wie Herr Müller viel später herausfand, eine Sterilisation war. Er bekam schreckliche Bauchschmerzen, die ihn heute noch manchmal plagen, und konnte einige Zeit nicht laufen. Erst später erfuhr er auch, dass die beiden, die ihn abgeholt hatten, Angehörige der Gestapo waren.
Herrn Müllers Pflegeeltern hatten als SPD-Mitglieder im Widerstand Kontakte zu anderen Menschen, die ihm halfen. Er erzählte uns, dass er eines Nachts im Krankenhaus von Männern geweckt wurde, darunter auch einem Freund der Eltern und einem Pfleger. Sie brachten ihn in ein Gartenhäuschen in der Nähe Halles, wo er versteckt und beschützt wurde.
Wie er später erfuhr, war der Anlass seiner „Entführung“ die Tatsache, dass er in das Konzentrationslager Bergen-Belsen gebracht werden sollte. Diesen Hinweis hatten seine Pflegeeltern von einem Bekannten erhalten, der Mitglied der SS war. Seine Pflegefamilie und deren Freunde und Bekannte wurden nach seinem Verschwinden von der Gestapo verhört, um sein Versteck preiszugeben. Doch niemand verriet ihn, auch wenn der Druck so groß wurde, dass ein Freund der Familie sowie sein Pflegevater Selbstmord begingen.
In einer anderen Gartenhütte verbrachte er weitere fünf Monate, bis er von amerikanischen Soldaten gefunden und „befreit“ wurde. Ich fragte ihn, ob er denn in der Hütte keine Angst gehabt habe, gefunden zu werden. Er verneinte es, da er aufgrund seines Alters die Situation nicht vollends verstand und immer Vertrauen in die Widerstandskämpfer hatte.
Herr Müller ist voller Dankbarkeit für seine Retter und wird ihre Taten nie vergessen. Doch versteht er bis heute nicht, wie Menschen einem Kind so etwas antun und ihm die Zukunft nehmen konnten. Seine Versuche, die Ärzte zur Rechenschaft zu ziehen, blieben erfolglos.